Tod und eigenes Leben

Tod und eigenes Leben

Meine Schwester war von Anfang an tot. Das hatte sie allen Lebenden in unserer Familie weit voraus. Doch war mir das lange Zeit nicht bewußt. Zum einen erwähnte niemand in der Familie die Totgeborene. Nur einmal rutschte meiner Mutter beim Frühstückstisch kurz etwas über die Existenz meiner Schwester heraus. Sie tauchte also nur blitzlichtartig in einem sprituellen Moment auf, blieb dann aber irgendwo zwischen Brötchen und Frühlingsquark wieder hängen. Und wurde mit einer Serviette, samt Brotkrümeln sofort weggewischt. Wie eine unangenehme Erinnerung, die niemand haben wollte. Zum anderen mußte ich, um mehr von meiner Schwester zu erfahren, erst sehr viel älter werden. Ich mußte lernen meinen Gedanken an den eigenen Tod etwas Positives abzugewinnen. Eine Denkungsart, die nicht gerade en vogue ist in unserer omnipotenten Gesellschaft, die gerne nach Unsterblichkeit schielt, ohne Angst davor, dass die Augen so stehen bleiben könnten. Unsere Experten haben das längst als Aberglauben entlarvt. Doch beim Schielen weicht bekanntlich ein Auge zeitweilig oder dauerhaft von der normalen Parallelstellung ab, sodass die Augen nicht mehr dieselbe Blickrichtung haben und nicht mehr dasselbe Objekt fixieren. Und das, so meine ich, erklärt so einiges in der Welt um uns herum, was falsch läuft…

Previous post Faites vos jeux…
Next post Auferstehung als Erlebnis